In der Bildungszusammenarbeit mit den Kantonen erfüllt der Bund auf den verschiedenen Bildungsstufen unterschiedliche Aufgaben. Welche akuten Schwerpunkte rückten seit Mitte März in den Vordergrund?

Seit Mitte März befindet sich das Schweizer Bildungssystem in einem Umbruch und steht vor einer noch nie dagewesenen Situation. Auch das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) war dabei gefordert, zahlreiche Aufgaben zu übernehmen: 

Nach der Schliessung der Schulen beauftragten das SBFI und die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) umgehend die Fachstelle educa.ch mit der Einrichtung von Eduport – der Plattform, auf der Sie gerade lesen – die in erster Linie die kantonalen Behörden bei der Umsetzung des Fernunterrichts unterstützen soll.

Darüber hinaus planen das SBFI und die EDK in Zusammenarbeit mit educa.ch, die Folgen der Fernunterrichtsphase zu untersuchen und die gewonnenen Erkenntnisse zu konsolidieren, damit das Bildungssystem in Zukunft besser auf die Digitalisierung vorbereitet ist.

Darüber hinaus war das SBFI stark gefordert, sicherzustellen, dass möglichst alle Absolventinnen und Absolventen trotz Corona diesen Sommer ihre Abschlüsse machen können. Bei den Lehrabschlussprüfungen und den Berufsmaturitätsprüfungen, die im Zuständigkeitsbereich des Bundes liegen, wurden mit Kantonen und Sozialpartnern abgestimmte Lösungen gefunden. Bei den gymnasialen Maturitätsprüfungen brachten die Kantone leider keine interkantonal abgestimmte Lösung zustande. 

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Wie erleben Sie die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen seit Ausbruch der Krise?

Die Zusammenarbeit mit der EDK war noch nie so wichtig wie heute. In einem heiklen Moment wie dem, den wir derzeit erleben, bin ich überzeugt, dass gemeinsame Anstrengungen und Zusammenarbeit für die Entwicklung des Schweizer Bildungsraums essentiell sind. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um allen beteiligten Partnern für die ausgezeichnete Arbeit zu danken, die sie in den letzten Wochen, oft in Situationen grosser Belastung, geleistet haben.

Gleichzeitig wird es zweifellos nötig sein, mit der gebotenen zeitlichen Distanz zu dieser aussergewöhnlichen Lockdown-Periode eine Aufarbeitung des behördlichen Krisenmanagements im Bildungsbereich vorzunehmen. Stand heute sehe ich hier durchaus Verbesserungspotential.

Der Entscheid vom 29. April, den Kantonen die Durchführung schriftlicher Maturitätsprüfungen freizustellen und auf die Prüfungen zur eidgenössischen Berufsmaturität zu verzichten, ist z. T. auf Unverständnis gestossen. Kritiker hatten eine einheitliche Regel erwartet. Was antworten Sie ihnen?

Die Regelung der Berufsmaturität liegt in der Verantwortung des Bundes. Am 29. April 2020 hat der Bundesrat beschlossen, dass die Berufsmaturität 2020 vollständig auf den Erfahrungsnoten basieren soll. Das war zu verantworten, da die Berufsmaturität stets in Kombination mit einem Lehrabschluss verliehen wird. Und praktische Lehrabschlussprüfungen finden in den meisten Berufen statt. Diese Entscheidung wurde nach Konsultation aller Verbundpartnern der Berufsbildung einhellig getroffen.

Anders ist die Situation bei den kantonalen Prüfungen für die gymnasialen Maturität. Bund und Kantone verfolgen gemeinsam das politische Ziel, den Inhaberinnen und Inhabern der gymnasialen Maturität einen langfristigen, prüfungsfreien Zugang zu den Universitäten zu gewährleisten. Die Kantone haben versucht, eine für die ganze Schweiz gültige Lösung zu finden, jedoch ohne Erfolg. Die EDK hat den Bund deshalb ausdrücklich aufgefordert, eine Lösung zu ermöglichen, die es den Kantonen erlaubt, entsprechend ihrer eigenen Situation frei zu wählen. Der Bundesrat hätte eine einheitliche, schweizweit gültige Lösung für die Durchführung der gymnasialen Maturitätsprüfungen bevorzugt. Der späte Zeitpunkt des EDK-Antrags liess diese Option leider nicht mehr zu, zumal einige Kantone in ihrer Kommunikation bereits vorgeprescht waren. Zum andern wäre eine «Übersteuerung» durch den Bund ein sehr starker Eingriff in das föderal organisierte Schweizer Bildungssystem gewesen.

Aufgrund der Coronavirus-Epidemie erleben wir derzeit eine aussergewöhnliche Situation. Die kantonale Maturität 2020 wird deshalb auch ein aussergewöhnliches Abschlusszeugnis sein. Es ist jedoch gleichwertig zu den in anderen Jahren ausgestellten Maturitätszeugnissen und gewährt den Maturandinnen und Maturanden den Zugang zu den Hochschulen.

Das ohnehin omnipräsente Thema Digitalisierung hat seit Mitte März zusätzliche Virulenz erhalten. Welche Auswirkungen erwarten Sie über die unmittelbare Krisenbewältigung hinaus?

In den letzten Wochen ist das Thema Digitalisierung zu einem wichtigen Bestandteil des täglichen Lebens von Schulleitungen, Lehrpersonen und Familien geworden.

Persönlich hoffe ich, dass diese Krise auch die grössten Skeptiker von den Vorteilen der Digitalisierung und ihrer Unverzichtbarkeit in der heutigen Gesellschaft überzeugen konnte. Ich wünsche mir, dass sich unser Bildungssystem in Richtung einer durchdachten und kohärenten Integration der Digitalisierung bewegt, die im Übrigen die analoge Bildung nicht ersetzen kann und darf. Die Digitalisierung bietet neue Methoden und Möglichkeiten für das Lehren und Lernen sowie neue Formen der Datenerhebung und -analyse zur Steuerung des Bildungssystems. Eines scheint mir dabei ganz besonders wichtig: Digitalisierung in der Bildung ist kein Selbstzweck. Sie muss dazu beitragen, das Lehren und Lernen substanziell zu verbessern und die Effizienz und Effektivität der Lernprozesse zu steigern. Das gelingt nur mit einer intelligenten Kombination von analogen und digitalen Elementen.

Die Bildungsakteure hatten in den letzten zwei Monaten Zeit, wertvolle Erfahrungen zu sammeln – positive, aber auch kritische. Daraus gilt es zu lernen. Lehrpersonen aller Stufen haben sich rasch und flexibel an neue Umstände angepasst und ihr Improvisationstalent unter Beweis gestellt. Dafür verdienen sie unsere Anerkennung! Das Bildungssystem als Ganzes muss aber schon zur Kenntnis nehmen, dass es in Sachen Digitalisierung noch ein grosses Wegstück vor sich hat. Ich hoffe sehr, dass wir die durch die Corona-Krise ausgelöste Dynamik in Sachen Digitalisierung in die Zukunft mitnehmen können.

Noch ist völlig offen, wann eine neue Normalität den Alltag bestimmen wird. Trotzdem: Sehen Sie heute schon Erkenntnisse, die Bund und Kantone für die Weiterentwicklung der Bildungszusammenarbeit nutzen können?

Diese aussergewöhnliche Situation hat nicht nur die grosse Flexibilität, Kreativität und Leidenschaft von Bildungsbehörden, Schulleitungen, Lehrpersonen und Familien gezeigt, sondern auch die Herausforderungen im Bereich der Digitalisierung, denen sich unser Bildungssystem stellen muss. Als Beispiele nenne ich die Schulinfrastruktur, Chancengleichheit, Datenschutz und die digitalen Kompetenzen von Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern.

Um die Kohärenz zwischen den Initiativen auf Bundes- und Kantonsebene sicherzustellen, arbeiten Bund und Kantone im Koordinationsausschuss «Digitalisierung der Bildung» eng zusammen. In diesem Zusammenhang und in Anbetracht der aus der Corona-Krise gezogenen Lehren, prüfen Bund und Kantone gemeinsam, inwieweit Handlungsbedarf besteht, um das Schweizer Bildungssystem weiter zu verbessern – besonders bei der Digitalisierung.

Diese verlangt in vielen Teilaspekten national abgestimmte Lösungen. Diese stehen oft im Widerspruch zum föderalen Aufbau des Schweizer Bildungssystems. Es wird Aufgabe von Bund und Kantonen sein, im guten Dialog differenzierte und austarierte Formen der Zusammenarbeit zu finden, welche es erlauben, national abgestimmte Lösungen zu finden, wo dies unabdingbar ist, um die Vorteile der Digitalisierung zu nutzen, und wo immer die kantonalen Unterschiede zu pflegen und wertzuschätzen, wo deren Mehrwert offensichtlich ist.

 

 

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