Sie arbeiten an der EPFL. Können Sie kurz erläutern, was Ihre Aufgaben sind und inwiefern Sie mit Daten in der Bildung in Berührung kommen?

An der EPFL wurde 2018 das Zentrum für Lernwissenschaften gegründet, das ich seither operativ leite. Das Zentrum hat die Aufgabe, Innovationen in der Bildung voranzutreiben. Der Ansatz dafür ist, erstens auf wissenschaftlichen Ergebnissen aufzubauen, damit die bestmöglichen Massnahmen umgesetzt werden. Zweitens betreiben wir Begleitforschung, damit die Massnahmen laufend verbessert werden können und letztendlich die Auswirkungen belegt werden. Die Begleitforschung besteht darin, Daten über die jeweiligen Lehr- und Lernprozesse und deren Effekte auf Lehrpersonen und Lernende zu erheben.

Im Kanton Waadt haben wir beispielsweise im Projekt EduNum mit dem Bildungsdepartement sowie HEP Vaud und Uni Lausanne zusammengearbeitet, um Lehrmaterial zu erstellen und Lehrpersonen weiterzubilden. Die Umsetzung wurde durchgehend datenbasiert überarbeitet und ein systematisches Monitoring aufgesetzt.

Auf welche Herausforderungen stossen Sie in Ihrem Arbeitsalltag?

Es ist zunächst einmal nicht selbstverständlich, dass Innovationen oder Reformen in der Bildung empirisch untersucht werden. Entscheidungsträger müssen dazu einen Ansatz der Pilotierung wählen, bei dem eine Intervention zunächst bei einer kleinen Anzahl (von Klassen oder Schulen) umgesetzt, anhand der real gemessenen Ergebnisse laufend angepasst und dann erst die verfeinerte Intervention für alle Klassen oder Schulen verallgemeinert wird. Leider werden viele Veränderungen einfach beschlossen. Auch wenn dies unter Konsultation verschiedener Gruppen demokratisch geschieht, beraubt man sich doch der Möglichkeit, die Intervention anhand von konkreten Daten iterativ zu verbessern. Aber: Wie realistisch ist es, ein Projekt oder eine Reform direkt perfekt aufzugleisen? In einer lernenden Gesellschaft sollten wir die Option zur kontinuierlichen Verbesserung nicht verpassen, wir sollten sie sogar einfordern.

«  In einer lernenden Gesellschaft sollten wir die Option zur kontinuierlichen Verbesserung sogar einfordern.  »

Weiterhin stehen wir vor der Herausforderung, dass die Auswirkungen von Innovation und Reformen in der Bildung systematisch und gründlich untersucht werden müssen. Verschiedene Probleme können sich stellen, zum Beispiel fehlender politischer Wille oder mangelnde Ressourcen. Zudem sind diese Untersuchungen oft in ihrer Aussagekraft begrenzt. Teilweise werden nur leicht messbare Informationen, wie die Anzahl von digitalen Endgeräten pro Klasse erfasst, die aber wenig über die letztendlich erhofften Auswirkungen aussagen. Weiterbildungen als massgeblicher Teil von Reformen werden oft vor allem über subjektive Einschätzungen der Zufriedenheit von Teilnehmenden beurteilt, während eine mehrstufige Evaluation auch den Transfer in die Unterrichtspraxis und den Effekt auf Lernprozesse und Lernergebnisse umfassen würde und damit das, was ja eigentlich erzielt werden soll. Als Forschende werden wir oft nicht frühzeitig genug in Projekte eingebunden, so dass bestimmte Forschungsmethoden gar nicht mehr möglich sind. Beispielsweise braucht eine Wirkungsevaluation die Messung der Ausgangssituation. Wenn sie verpasst wird, kann die Veränderung zwischen «vorher» und «nachher» nicht mehr sauber erfasst werden.

Welche Massnahmen sehen Sie, um diesen Herausforderungen zu begegnen?

Die Forschungswelt kann gegenüber der Bildungsverwaltung und Bildungspraxis die Vorteile besser sichtbar machen, die der Pilotierungsansatz und eine begleitende Wirkungsevaluation für alle Beteiligten haben.

Im demokratischen Prozess können wir alle einfordern, dass Neues in begrenztem Rahmen solide untersucht wird, bevor es in die Breite getragen wird, und dass die erhofften Effekte empirisch belegt werden. Sei es als Elternvertretung in einer Schule, als Kommunalpolitikerin oder -politiker oder als Wählerin und Wähler.

«  Die Forschung kann die Vorteile des Pilotierungsansatzes und einer begleitenden Wirkungsevaluation besser sichtbar machen.  »

Was wünschen Sie sich für die zukünftige Datennutzungspolitik im Bildungsraum Schweiz?

Mein Eindruck ist, dass wir viel darüber nachdenken, was an Daten problematisch ist und welche Gefahren drohen. Natürlich haben wir die Pflicht, die Sicherheit von Daten und den Respekt von ethischen Prinzipien bei der Verwendung von Daten sicherzustellen, insbesondere wenn es Daten von Minderjährigen betrifft. Die negative Perspektive kann aber dazu führen, dass wir das positive Potential von Daten unterschätzen und gegebenenfalls weniger Daten erheben, als wir sollten. Haben wir nicht auch die Verpflichtung, solide Daten und belastbare Ergebnisse zu liefern, um Bildungsprojekte  mit Informationen zu stützen und ihre Auswirkungen objektiv zu belegen?

Herausforderungen und Wünsche im Umgang mit Daten

Jessica Dehler Zufferey formuliert Bedürfnisse und Erwartungen an eine schweizweite Datennutzungspolitik aus Sicht der Forschung.

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Gesprächspartnerin

Geschäftsleiterin LEARN
Jessica Dehler Zufferey
Geschäftsleiterin
LEARN

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