Lernen funktioniert ja nicht nur sehr gut mit intrinsischer Motivation: wir lernen oft sehr gut und nachhaltig, wenn wir unfreiwillig in neue, ungewohnte Situationen geworfen werden. Covid-19 hat uns allen eine Vielzahl solcher Situationen auf unterschiedlichen Ebenen beschert. Bei SILVIVA war eine zentrale Lernerkenntnis: wir leben im Zeitalter der Digitalität, ganz egal, was wir für Präferenzen und Ansichten zum Thema digitales oder analoges Lernen haben mögen. Diese Einsicht hat etwas Schockartiges, aber auch Befreiendes. Ähnlich wie die wissenschaftlich mittlerweile gut erhärtete Einsicht, dass es nur unsere eine, materielle Welt gibt und alles andere mit Emergenz (nicht Metaphysik) erklärbar ist, meint Digitalität, dass unser Leben unausweichlich verflochten ist mit Mikroprozessoren, elektronischen Netzwerken und technischer Realität. Selbst die eingefleischtesten Handy-Vermeider und Technophobiker können sich nicht darum herumdrücken, dass praktisch keine menschliche Interaktion in welchem Bereich auch immer (Medizin, Politik, Mobilität, Energie, Bildung, …) ohne synergetische Interaktion mit digitalen Geräten mehr möglich ist. Ja, wir müssen uns vielleicht sogar von liebgewordenen mentalen Modellen verabschieden, nach welchen etwa Leben Technik gegenübergestellt wird. James Gleick schreibt etwa in seinem Buch The Information (2011):

«DNA is the quintessential information molecule, the most advanced message processor at the cellular level – an alphabet and a code, 6 billion bits to form a human being. "What lies at the heart of every living thing is not a fire, not warm breath, not a 'spark of life'," declares the evolutionary theorist Richard Dawkins. "It is information, words, instructions ... If you want to understand life, don't think about vibrant, throbbing gels and oozes, think about information technology."» (S. 8–9)

Diese zunehmende Verflechtung und Interdependenz kann man gut oder schlecht finden und ich meine unbedingt, dass wir einen aufgeklärten öffentlichen Diskurs darüber brauchen, wo wir die Grenzen zwischen menschlicher Selbstbestimmung und Entscheiden durch Algorithmen ziehen wollen. Ich bin aber überzeugt, dass dieser neue Blick der Digitalität es uns erlaubt, entspannter und ohne vorgefasste Meinungen auf wirkungsvolle Lernprozesse zu schauen, die ja für die Bildungspolitik das übergeordnete Ziel darstellen sollten.

Wenn man erstmal anerkennt, dass nicht analog richtig und digital falsch (oder umgekehrt) ist, sondern dass wir in einer analog-digitalen Hybridrealität leben, dann können wir die Grabenkämpfe hinter uns lassen, und uns differenziert und evidenz-basiert der Frage zuwenden: wie muss Lernen heute aussehen, damit es uns Erwachsene und die Schulkinder bestmöglich darauf vorbereitet, um mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – und damit mit Fragen des Klimawandels, der Gerechtigkeit und demokratischer Entwicklung – konstruktiv und zielführend umgehen zu können?

Wenn wir uns die Lernwirksamkeitsforschung anschauen, dann kriegen wir einige Hinweise, wie wirkungsvolles Lernen ausschauen könnte: zentral wichtig sind z. B. Selbsteinschätzung (durch die Lernenden) und Fremdeinschätzung (durch Lehrpersonen) des eigenen Lernniveaus, Selbstwirksamkeitsüberzeugung, kollektive Wirksamkeitserwartung der Lerngruppe, Glaubwürdigkeit und Klarheit der Lehrperson, Einüben, Erinnern und Überprüfen des Gelernten, und Reaktion auf Interventionen. Und aus der Hirnforschung können wir folgendes ablesen: Lernen, welches möglichst vielfältige Sinne aktiviert (Sehen, Berühren, Riechen, Schmecken, Hören, Bewegen), welches in dynamischen, stimulierenden Realwelt-Umgebungen stattfindet und welches aktives, selbstbestimmtes Involviertsein der Lernenden erfordert, ist sehr wirkungsvoll und erlaubt eine verlässliche Verankerung im Gedächtnis.

Wenn Sie genau mitgelesen haben, dann werden Sie sofort erkannt haben: (fast) nichts davon prädestiniert digitales oder analoges Lernen. Denn es ist bereits absehbar, dass audiovisuelle Erlebnisse bald diese Sinnesstimulation ermöglichen werden. Es ist aber bereits heute vorstellbar, dass wir mit einer klug eingesetzten Tablet-Nutzung bei einer explorativ-erforschenden Lernaufgabe im Wald eine höhere Motivation und Wirksamkeitserwartung hinkriegen, als mit traditionell analogem Vorgehen.

Da aber eine mittlerweile qualitativ gute Forschungsbasis dafür besteht, dass Lernen in der Natur gegenüber dem traditionellen Lernen im Klassenzimmer die intrinsische Motivation fördert, die soziale Interaktion und das gegenseitige Vertrauen stärkt, Sprachkompetenzen unterstützt und Bewegung, Geschicklichkeit, Gesundheit und Kreativität fördert, macht es wohl tatsächlich Sinn, sich zunehmend – gerade auch im Covid-19-Distanzzeitalter – gut zu überlegen, ob nicht ein Teil des lehrplangestützten Unterrichts regelmässig in Realweltlernräume draussen verlegt werden sollte. Denn dadurch werden auch die OECD-Zukunftskompetenzen (kritisches Denken, Kooperation, Kommunikation, Kreativität) gestärkt und die Lehrpersonen und Schülerinnen bauen einen erfahrungsbasierten Bezug zu ihrer lokalen Umwelt auf.

Nur heisst das aufgrund des oben Gesagten nicht: zurück in die analoge Natur. Unter einem Bildungsblick müssen wir folgende Herausforderung meistern: wie können wir die oben angesprochene hybride Digitalität so nutzen, dass wir diejenigen Lernräume und -situationen schaffen, welche im Zusammenspiel von realem Naturerlebnis und digitaler Lernunterstützung Lernen am wirksamsten fördern? Und dann sind plötzlich sogar Dinge, die wir uns vor Covid-19 noch nicht mal vorstellen konnten, möglich: Fernlernen mit der Natur.

Und die entscheidende Frage heisst vielleicht nicht mehr: Natur versus Technik, sondern Drinnen nicht evidenzbasiert lernen ohne Natur versus wirkungsvoll Draussen lernen mit optimaler Nutzung der Möglichkeiten, die uns Digitalität bietet.

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