Jörg Berger (J.B.): Gérard, wie habe ich mich gefreut über den gemeinsamen Schulterschluss der EDK bei der Zeugnisfrage. Dies ist wahrlich ein wichtiger Beitrag zur Chancengleichheit. Glaubst du auch, dass dieser koordinierte Entscheid der Bildungspolitiker nicht nur richtig sondern auch wegweisend sein kann?

Gérard Aymon (G.A.): Unbedingt! Ich befürworte stark, dass diese Handhabung nach der Öffnung der Schulen weitergeführt wird. Eine Harmonisierung in den Sprachregionen ist wünschenswert. Beim VSLCH geht ihr ja noch weiter.

J.B.: Ja, eine aktuelle Umfrage bei unseren 2'200 Mitgliedern zeigt, dass 75 % ein für die gesamte Sprachregion einheitliches Zeugnissystem unterstützt. Wir vom VSLCH wünschen uns, dass kantonale Bildungsdirektionen der Deutschschweiz dem Beispiel des Kantons Bern folgen, der die Zeugnisse schon vor der Coronakrise grundsätzlich durch Beurteilungsberichte ersetzt hat.

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G.A.:In der französischsprachigen Schweiz und im Tessin wird die Frage derzeit weniger diskutiert. Eure Idee, Zeugnisse für eine ganze Region zu standardisieren, scheint mir jedoch ein Fortschritt für das Verständnis des Schulsystems durch alle Partner zu sein. Es werden jedoch einige Hindernisse zu überwinden sein.

J.B.:Grosse Ideen entstehen in Krisensituationen. Corona lehrt uns neue Formen des Lernens – und neue Formen des Zusammenarbeitens. Vielleicht auch unter den kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren? Der Zukunftsforscher Matthias Horx stellt in diesem Zusammenhang eine spannende Methode vor. Bei dieser Technik schaut man aus der Zukunft zurück ins Heute. Worüber werden wir uns rückblickend wundern?

G.A.:Nach Corona wird die Schule wahrscheinlich nicht mehr so sein wie zuvor! Ich hoffe, dass der Lehrerberuf aufgewertet wird. Es ist sicher, dass in einigen Wochen im digitalen Bereich enorme Fortschritte erzielt werden. Ich hoffe, wir können diese Kompetenzen nutzen, um die Kommunikation mit den Eltern zu verbessern und die Hausaufgaben besser zu verwalten. Darüber hinaus kann die Remote-Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen, Schulleitungen, Eltern usw. dank digitaler Tools verbessert werden.

J.B.:Du sprichst etwas Wesentliches an. Es geht ums Miteinander. Auch in der Deutschschweiz spüren wir viel Wertschätzung und Zuspruch seitens der Eltern. Aber; «neue Formen des Lernens» meine ich wörtlich. Dass wir traditionellen Unterricht nun vermehrt digital betreiben, ist wie alter Wein in neuen Schläuchen. Was wir wirklich brauchen, ist der Fokus und unsere volle Aufmerksamkeit auf dem Lernen selbst. Es entstehen aktuell wunderbare Beispiele wie fächerübergreifend gelernt wird, wie sich offen formulierte Aufgaben und bewährtes Training im Zusammenspiel arrangieren lassen. Wie Schülerinnen und Schüler Schritt für Schritt an eigenen Projekten wachsen und ihre Interessen und Neigungen entdecken dürfen. Die LinkedIn-Gruppe «Fernlernen» gibt viele solcher Beispiele preis. Wo vernetzen sich Schulleiter und Schulleiterinnen der Romandie, um über pädagogische Themen zu diskutieren?

G.A.:Im Moment haben wir keine Bildungsplattform. Wir arbeiten mehr durch Affinität und durch Netzwerke. Während dieser ersten Phase der Schulschliessung hatten die Schulleitungen nicht viel Zeit zum Nachdenken. Nicht alle Schulen sind mit der digitalen Technologie auf dem gleichen Niveau. In einer zweiten Phase wird das System einen Schritt zurücktreten und eine Neugestaltung der Schule muss in Diskussion mit allen Partnern erfolgen.

J.B.:Dieser Wandel der Schule verlangt nach einem neuen Rollenverständnis. Wir alle sind Lernende. Lehrerpersonen engagieren sich im Fernlernen intensiv als Lernberater und -beraterinnen. Und uns Schulleitern und Schulleiterinnen wird einmal mehr bewusst, dass wir die Schule gemeinsam mit einem motivierten Team voller Expertinnen und Experten führen. Niels Anderegg, Zentrumsleiter Management und Leadership der PH Zürich hat dazu auf dem Blog Schulführung einen lesenswerter Artikel verfasst und schreibt in einem Abschnitt: «Schulleitungen, die gestalten, sind mitten im Geschehen. Sie schaffen Bedingungen, damit Lehrerinnen und Lehrer innovativ sein können, damit sie neue Formen des Unterrichtens ausprobieren können. Zudem interessieren sie sich für die gefundenen Resultate. Nicht zum Kontrollieren ob die Lehrerinnen und Lehrer ihre Aufgabe gemacht haben, sondern aus Interesse und zum Lernen. Hier entsteht Neues und die Schule wird nach der Schliessung nicht mehr die gleiche sein wie vorher.» Geht es dir auch so, Gérard?

G.A.:Es gibt in der Tat zahlreiche neue Formen, die mehr Raum für nicht-formale Bildung schaffen. Kreativität entsteht immer aus dem Chaos, und das ist derzeit der Fall. Es ist zu hoffen, dass alle diese neuen Impule in der Pädagogik die Schulen anregt Innovationen zu entwickeln. Vergessen wir aber auch nicht, dass viele Lehrerinnen und Lehrer dieses Chaos nicht gelassen nehmen und sich Sorgen machen. Wir müssen für sie da sein, sie führen und beruhigen.

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