Die Digitalisierung im Bildungswesen ist beileibe keine neue Erscheinung, aber nachdem die Corona-Krise unser Bildungswesen ziemlich unerwartet erfasst hat, gab es einen Digitalisierungsschub nie dagewesenen Ausmasses. Niemand wird bestreiten, dass ein solcher Schub ohne die komplette Schliessung aller Schulen nicht viel länger auf sich hätte warten lassen. Die Frage, die sich aber heute stellt, ist jene, ob wir dank oder wegen dieser Krise nun von einem Status der Prädigitalisierung in einen Status des komplett digitalisierten Bildungswesens gewechselt haben oder ob wir nach der Wiedereröffnung der Schulen wieder in den alten Zustand zurückfallen werden? Meine Hoffnung ist, dass die Antwort weder-noch lautet.

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Digitalisierungsgrad wird erhöht

Auch wenn die Krise nicht alle Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler in gleichem Masse in die digitalisierte Bildungswelt katapultiert hat, so hat sie doch fast alle zu einem Digitalisierungsschritt gezwungen und somit den Digitalisierungsgrad im Durchschnitt merklich erhöht. Infolgedessen werden nach der Krise neben denen, die nicht schon vorher digital unterwegs waren, Abertausende von Lehrpersonen, Schülerinnen und Schülern neu Erfahrungen mit digitalen Hilfsmitteln gemacht haben und sich ein Bild über die Vor- und Nachteile einer digitalen Bildungswelt gemacht haben. Dieser Umstand verleitet mich zur leisen Hoffnung, dass sich die Bildungsakteure nach der Krise nicht mehr nur in zwei teilweise unversöhnlichen Blöcken gegenüberstehen werden: den Digitalisierungsturbos und den Digitalisierungsverweigerern. Die Verweigerinnen und Verweigerer werden zu ihrem Erstaunen feststellen, wie Lernprozesse und –organisationen dank dem Einsatz digitaler Hilfsmittel in ihrer Effizienz und Effektivität gesteigert werden können. Gleichzeitig werden die «Turbos» vielleicht auch zu ihrem Erstaunen feststellen müssen, dass sich wichtige Aspekte der analogen Welt und der durch den Präsenzunterricht strukturierten Lernprozess nicht einfach durch digitale Lösungen kopieren und ersetzen lassen.

Dialog zwischen Verweiger und Turbos der Digitalisierung

Lassen Sie mich dazu zwei konkrete Beispiele nennen: Auf der einen Seite wäre es ohne digitale Hilfsmittel, von Videokonferenzen mit eingebautem Gruppenunterricht bis hin zu Übungsanleitungen mittels selbst aufgenommener Filme, nicht möglich gewesen, den Unterricht sofort in alle Elternhäuser der Schülerinnen und Schüler zu tragen. Warum sollen diese technischen Lösungen nicht auch weiter eingesetzt werden, wenn Schülerinnen oder Schüler beispielweise wegen einer Krankheit oder eines Unfalls den Unterricht versäumt haben? Warum nicht denjenigen, die weniger schnell unterwegs sind, diese Materialien zum Repetieren und Selbststudium zur Verfügung stellen oder denjenigen, die gerne ein höheres Lerntempo anschlagen möchten, dadurch zusätzliche Lernmöglichkeiten ermöglichen? Digitale Hilfsmittel sind der Weg, die Forderung nach individualisiertem Unterricht ohne zu grossen Mehraufwand für die Lehrpersonen endlich Realität werden zu lassen.

Auf der anderen Seite wird es auch den glühendsten Digitalisierungspropheten aufgefallen sein, dass sich wichtige Aspekte des analog strukturierten Präsenzunterrichtes entweder nicht ersetzen oder nur unvollständig simulieren lassen. Hervorzuheben wäre hier beispielhaft der Effekt der Simultanität des Lernens. Schülerinnen und Schüler sind nicht nur in dem Sinne «Mitproduzenten» von Bildung, weil ohne ihr eigenes aktives Hinzutun keine Kompetenzen entstehen können, sondern auch im Sinne der Interaktion. Folgen mehrere Schülerinnen und Schüler gleichzeitig der Entwicklung eines Gedankenganges einer Lehrperson und interveniert eine oder einer von ihnen mit einer Verständnisfrage, kann diese Frage einen Lerneffekt bei den Klassenkolleginnen und Klassenkollegen auslösen, weil sie darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie – entgegen dem, was sie bis zur Unterbrechung des Unterrichts vermeintlich annahmen – diesen Punkt auch nicht verstanden hatten. Erst durch diese Unterbrechung des eigenen Lernprozesses entfaltet die Antwort der Lehrperson ihren Lerneffekt. Dieser durch die Interaktion entstehende Lerneffekt kann somit zeitversetzt, also ohne simultanes Lernen, nur unvollständig bis gar nicht erzielt werden. Natürlich könnten Schülerinnen und Schüler auch in einer Chatfunktion nachlesen, dass eine Mitschülerin oder ein Mitschüler eine Frage gestellt hatte. Aber eine vielleicht sogar schwer in einen Kontext zu stellende Frage löst eben nicht den gleichen «Aha» Effekt aus, wie wenn man durch die Frage im eigenen Lernprozess unterbrochen geworden ist. Jetzt kann man einwenden, dass auch über eine Videokonferenz simultanes Lernen ermöglichen kann. Dann hätten wir aber einfach wieder Präsenzunterricht, dieses Mal ohne non verbale Kommunikation und die anderen positiven sozialen Aspekte des physischen Präsenzunterrichtes.

Digitale und analoge Lernwelten gewinnbringend verschmelzen

Die Liste an positiven Einsatzmöglichkeiten digitaler Lernformen und digitaler Tools liesse sich ebenso lang fortsetzen wie die Liste zentraler Aspekte der Lernprozesse, die sich eben nicht durch solche ersetzen oder simulieren lassen. Dies führt mich zu einem der zentralen Befunde der bisherigen Forschungsliteratur zum Thema der Effektivität digitaler Lehr- und Lernformen beim Kompetenzerwerb. Kurz zusammengefasst ist diese in der Vergangenheit leider weit unter ihrem Potential geblieben. Und zwar nicht deshalb, weil es keine positiven Einsatzmöglichkeiten digitaler Lehr- und Lernformen gäbe, sondern, weil diese häufig dann zum Einsatz kamen, wenn sie nicht angebracht waren und umgekehrt, wenn man dort, wo man sie hätte einsetzen sollen, immer noch auf die analogen Methoden setzte.

Deshalb baut meine Hoffnung darauf auf, dass die über eine Million Lehrpersonen, Schülerinnen, Schüler, Lernenden und Studierenden, die in den letzten Wochen einem «Digitalisierungsbad» ausgesetzt waren, mit dieser Erfahrung nicht nur gelernt haben, wo digitale Mittel gewinnbringend eingesetzt werden können, sondern auch wo und warum man sie besser nicht einsetzen würde. Schaffen wir es, diese beiden Erfahrungen zusammenzuführen, dann gelingt es uns hoffentlich, das Beste aus zwei Welten, der digitalen und der analogen Welt, so zu verschmelzen, dass unsere Bildungswelt von morgen besser aussieht als jene vor dem März 2020. 

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