Toni Ritz, Direktor Educa

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Der deutsche Zukunftsforscher Matthias Horx hat am 19. März 2020 zu einer Zeitreise in den Herbst 2020 eingeladen: «Wir sitzen in einem Strassencafé in einer Grossstadt. Es ist warm, und auf der Strasse bewegen sich wieder Menschen. Bewegen sie sich anders? Ist alles so wie früher? Schmeckt der Wein, der Cocktail, der Kaffee, wieder wie früher? Wie damals vor Corona?»

Regnose nennt er die Methode, im Gegensatz zur Prognose. Sie besteht darin, von einem imaginären Zeitpunkt X in der Zukunft zurückzublicken. Eine inspirierende und lohnende Übung, auch für die Bildung. Statt ins Strassencafé können wir uns gedanklich ins Schulzimmer oder an einen beliebigen anderen Lernort projizieren.

Lassen wir uns also ein auf das Spiel mit dem Blick nach vorne, zu Fragen aus der Zukunft:

  • Wie lernen und lehren wir jetzt, nach Corona?
  • Wie gestalten wir Unterricht?
  • Wie hat sich das Bildungssystem entwickelt?

Die Antworten auf die ersten beiden Fragen lassen sich direkt aus den für die meisten neuen Erfahrungen mit Fernunterricht schöpfen. Selbstgesteuertes und selbstverantwortliches Lernen werden sich zwangsläufig auch in Lernsettings mit klassischem Frontalunterricht eingenistet haben. Die Krise wird ein Bewusstsein dafür gefördert haben, wie digitale Methoden und hybride Formate die Lernreise und den Lernerfolg des Einzelnen günstig beeinflussen.

So werden wir uns «nach Corona», um in der Regnose-Sicht zu bleiben, wundern, wieso Komplexität, Interaktion mit Maschinen oder vernetzte und ortsunabhängige Arbeitsformen dermassen kontrovers diskutiert worden waren. Viele Menschen werden einen grossen Schritt hin zu Kompetenzen ausserhalb reinen Fachwissens getan haben: Kreativität, kritisches Denken, Erfindungsgeist und Empathie, Kommunikation und Kollaboration. Darauf werden kommende Generationen zunehmend aufbauen, um neben Algorithmen und Maschinen das zu sein, was sie ausmacht: Menschen!

Womit für das Bildungssystem eine Landmarke erster Ordnung gesetzt wäre: Die Verantwortung für eine Bildungsqualität, die den Herausforderungen des fortschreitenden 21. Jahrhunderts gerecht wird. Die Akteure werden während der Pandemie erkannt haben, wie guter Wille im föderalen Gefüge schweizweit belastbare Antworten auf dringende Fragen begünstigt. Dass digitale Methoden den Weg zu schnellen und qualitativ hochwertigen Entscheidungen erschliessen, wird als kollektive Erfahrung die Zeit nach der Krise prägen.

Heute, im März 2021, wissen wir, dass Matthias Horx für seine Strassencafé-Regnose einen falschen Zeithorizont gewählt hatte. Statt herbstlicher Boulevard-Romantik war ein neuer Lockdown angesagt. Horx musste sich eine neue Szenerie einfallen lassen, in einer anderen Jahreszeit. Und wir fragten uns: Ist das sie jetzt, die «neue Normalität»? Wenn nicht: Wann und wie erwartet sie uns?

In Sachen Romantik kann unsere Bildungs-Regnose dem Horxschen Vorbild nicht das Wasser reichen. Dafür hält sie dem Wechsel der Jahreszeiten stand. Und wohl auch dem Wechsel der Jahrzahl. Je länger die Pandemie dauert, desto nachhaltiger werden die ungeplanten Erfahrungen unser Verständnis von Lernen und Lehren prägen. Mehr und mehr Verantwortliche aller Ebenen des Bildungssystems werden nach der Pandemie, wann immer auch das sein wird, mit den jungen Lernenden fragen: Was war das damals, die Regnose?

Monika Knill schreibt in ihrem Vorwort, auf diesem Weg in die Zukunft kämen wir ihr wie Bergführer vor. Das Bild gefällt mir gut. Es bringt uns von der gedanklichen Zeitreise zurück in die Gegenwart. So garstig sie auch sein mag, in ihr schreiten wir mit geschulten Sinnen voran. Unsere Vorhaben erfordern umsichtige Planung, Vertrauen in die Seilschaft und Mut fürs Unbekannte; am Hausberg sind wir selten unterwegs.

In meinem zehnten Jahr als Verantwortlicher des Educa-Teams erlebe ich freudig, wie junge Talente mit bewährten Gefährtinnen und Gefährten neue Projekte aufgleisen. Ich weiss nicht, wie unsere Regnose für den Frühling 2021 gelautet hätte in der Zeit, als Edulog noch ferne Zukunft und educanet² Gegenwart war, als jedermann von «Schulen ans Netz» und niemand von Datennutzung sprach. Eben so wenig weiss ich, wie lange die Pandemie noch unseren Alltag belasten wird.

Bloss eines weiss ich: Wann und wie auch immer die «neue Normalität» uns erwartet, ein Zurück ins einst Vertraute wird es nicht geben. Was das für die Bildung bedeutet, und wie die Regnose in der künftigen Wirklichkeit ankommen wird, darüber können wir hoffentlich bald persönlich philosophieren. Gerne in einem Strassencafé.