Wie setzt ein Schulleiter den Fernunterricht unter den Bedingungen und in dem Zeitrahmen um, die vom Coronavirus vorgegeben sind?

In erster Linie ist man als Schulleiter jetzt auf kreative und motivierte Lehrpersonen angewiesen, die engagiert zusammenarbeiten und den Fernunterricht umsetzen. Ich kann mit Sicherheit, auch aus Rückmeldungen von Elternumfragen sagen, dass an unseren Schulstandorten starke Teams zusammenarbeiten, welche sehr schnell und innovativ auf die veränderte Situation reagiert haben. Die «Herausforderung Fernunterricht» traf also vor allem unsere Lehrpersonen. Aber generell war von Beginn an klar, dass es für uns als Schule eine unglaublich grosse Chance ist, uns gemeinsam weiterentwickeln zu können. Diese Phase als grenzenloses Spielfeld der Schulentwicklung zu nutzen, um Erfahrungen mit dem Lernen der Zukunft zu machen, ist ein Geschenk. In erster Linie ist uns wichtig, dass der Fernunterricht kein digitalisiertes Abbild des herkömmlichen Schulunterrichts sein darf und er für die Lernenden ein erhöhtes Mass an Selbstorganisation und Selbstverantwortung ermöglichen kann, während man als Lehrperson sicherlich vermehrt in die Rolle von Lernbegleitung und Coaching wächst. 

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Wie verändern sich die Rolle des Schulleiters und seine Beziehung zu den Lehrkräften?

Ich habe eigentlich versucht, die Rolle des «Facilitators» oder sagen wir «Supporters» einzunehmen und mit Ideen zu inspirieren oder bei pädagogischen Fragestellungen Diskussionspartner zu sein, denn wir hatten uns von Beginn darauf geeinigt, dass jetzt eine Phase anstünde, um Neues auszuprobieren, Fehler zu machen und positive Erfahrung mit neuen Unterrichtssettings zu sammeln. Krisen haben die Menschen immer schon zusammengeschweisst. Gerade in dieser Situation muss man doch als Schulleiter bewusst loslassen und sich als Bruchstück des Ganzen sehen, statt zu versuchen, durch Zentralisierung eine Pseudo-Sicherheit zu schaffen. Das braucht vor allem viel Vertrauen in die Teams und das habe ich. Es braucht keine Hierarchie, die vorgibt wo es langgeht. Ich will gar nicht alles entscheiden oder über alles informiert sein müssen, geschweige denn in einer Organisation mit 70 anderen Menschen der Meinung sein, dass ich alles besser wüsste oder den einzig wahren Weg kennen würde. Eigentlich habe ich mich seit Jahren gefragt, wie lange es noch dauert, bis der Leidensdruck in den Schulen gross genug wird, um die teils veralteten und hierarchischen Organisationsstrukturen aktiv zu überdenken. Ich bin überzeugt, dass wir von dieser Phase profitieren können und hoffe, dass wir nicht wieder in alte Muster verfallen und vergessen, was wir lernen und erleben dürfen.

Wie kann man die Leitung einer Schule aus der Ferne organisieren?

Das geht eigentlich auch digital recht gut, aber besonders deshalb, weil Selbstorganisation und Übernahme von Verantwortung für sich und das Team gut eingespielt sind. Zu Beginn war es doch für manche Lehrpersonen eine rechte Herausforderung, sich auf eine grösstenteils digitale Kollaboration einzulassen, aber nach ein paar Tagen war jeder in diesem Setting angekommen. Wichtig ist, dass in der Kollaboration jeder weiss, wo man andere mit den eigenen Stärken unterstützen kann und das auch tut und dass die Teams bereit sind, für sich Entscheidungen zu treffen und dafür die Verantwortung zu tragen. Menschen, die ihren «Purpose» und ihren «Impact» kennen, brauchen wahrscheinlich wenig bis gar keine Leitung oder Führung. Ich finde es wichtiger, dies in den Menschen zu wecken, statt ihnen ihre Wege vorzugeben. Kurz gesagt, «leite» ich wahrscheinlich auffällig wenig und nehme dies gerade im Moment als Zugewinn an Augenhöhe wahr.

Welche Methoden oder Lektionen, die im Fernunterricht gelernt wurden, können auch auf den Präsenzunterricht angewandt werden?

Durch den Fernunterricht ist ein Setting, in dem alle Schülerinnen und Schüler den gleichen Inhalt, am gleichen Ort, mit dem gleichen Ziel und in der gleichen Zeit «gelehrt» bekommen nicht mehr möglich. Das ist eine unfassbar grosse Chance, die Individualität des Menschen für das Lernen bewusst in den Vordergrund zu stellen. Die Familien organisieren das Lernen nach ihren persönlichen Tagesstrukturen und achten dabei auf den individuellen Lernrhythmus des Kindes. Lernen wird dabei mobiler, flexibilisierter und Stundenpläne völlig überflüssig. Auch statt Benotung können die Kinder und Jugendlichen mehr von Selbstbeurteilung oder orientierendem Feedback profitieren, aber auch wir Erwachsenen können vermehrt das Feedback unserer Schülerinnen und Schüler wahrnehmen. Lernen kann projekt- und produktorientierter stattfinden und knüpft an die Lebensrealität unserer nächsten Generation an. Und dabei hat sich der gesamte Lehrerberuf durch eine veränderte Rolle sowie die Aufhebung von starren Zeitstrukturen in den letzten Wochen total flexibilisiert. Ich bin überzeugt, vieles davon ist im schulischen Alltag umsetzbar, denn wir haben verstanden, dass wir auch ohne diese Strukturen auskommen. Um ehrlich zu sein, bin ich aber skeptisch, ob diese Erkenntnisse tatsächlich den Weg zurück in die Schule finden.

Wie wirkt sich der stärkere Austausch mit den Eltern auf den Schulbetrieb aus und welche Ressourcen erfordert er?

Ich nehme die Zusammenarbeit mit unseren Eltern in erster Linie sehr wertschätzend wahr. Sie sind sich bewusst, was unsere Lehrpersonen im Moment leisten und wir sind uns bewusst, was sie zu Hause mit ihren Kindern leisten. Ich kann nicht behaupten, dass uns dies mehr Ressourcen abverlangen würde. Wahrscheinlich sogar im Gegenteil. Die Lehrpersonen sind jetzt während ihrer Präsenzzeit stets für Kinder und Eltern erreichbar, das ist sonst nur ausserhalb der Unterrichtszeit möglich und verlagerte sich bisher auf den Mittag oder den Abend. Sicherlich sind die Lehrpersonen intensiver im Austausch mit unseren Eltern, aber je mehr es uns gelingt, für die Familien Sicherheit und Klarheit für das Lernen zu schaffen, desto weniger nehmen die Familien den Fernunterricht als Belastung war. Eine Elternumfrage an unserer Schule zeigt auf, dass weniger als 10% der Familien mit der Situation übermässig stark gefordert sind. Besonders diese Familien benötigen jetzt unsere Ressourcen. Chancengerechtigkeit ist uns wichtig. Mein Schulleiterkollege, Mirko Spada, und unsere Schulischen Heilpädagoginnen reagierten bereits vor den Frühlingsferien und bieten entweder per Lernplattform oder vor Ort 1:1 Settings für Kinder und Jugendliche, die beim Lernen besondere Unterstützung benötigen.

Wie funktioniert die Schnittstelle zur Bildungsdirektion?

Im institutionellen Räderwerk des Bildungssystems sind die Schulleitungen auf einen guten Draht zur Volksschuldirektion und weiteren Stellen auf der kantonalen Ebene angewiesen. Philipp Zimmer fasst hier seine Erfahrungen im Kanton Thurgau zusammen. 

Uns informiert der Kanton schnell und regelmässig, vor allem im Anschluss an die Entscheidungen des Bundes. Man muss jedoch sehen, wie volatil diese Situation ist. Es gibt klare Weisungen, wann immer möglich, aber es wäre vermessen, stets auf alles eine Antwort von kantonaler Seite zu verlangen. Die Schulen in unserem Kanton geniessen immer schon sehr viel Gestaltungsfreiräume, was die Thurgauer Schullandschaft divers gestaltet. Ich bin mir sicher, dass sich diese Art der Zusammenarbeit gerade jetzt bezahlt macht.

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