Im epischen Bühnenstück «Kofferkino» zeichneten wir Hartmanns Weg nach, erzählten von seinen Erfolgen und auch Misserfolgen. Und wir hatten Glück, dass zu Beginn des Sommers relativ leichte Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie galten, so dass wir rund um die Aufführung ein richtiges Geburtstagsfest veranstalten konnten.
« Man hat uns gesagt, dass Ihr die Leute seid, die sich um die Schule in der ganzen Schweiz kümmern. Ein ziemlich komplizierter Job, aber: Nehmt diesen Koffer mit all diesen Ideen und macht etwas Gutes daraus. »
Ida und Adi
Bei Educa hatten wir mit dem Anlass aber mehr im Sinn als Hartmann auf ein Podest zu heben und den Gästen eine gute Atmosphäre beim Apéro und Essen zu bieten. Eingelassen in das Bühnenstück waren kurze Filmsequenzen, mit denen Schlaglichter auf heute bestehende Herausforderungen des Bildungssystems geworfen wurden. Hartmann wurde durch sie immer wieder unterbrochen, sie störten seine Schilderung seiner Abenteuer und Heldentaten, und drängten ihn schliesslich in den Hintergrund: Am Schluss standen Jugendliche auf der Bühne, die der Generalsekretärin der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) und dem Vizedirektor des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) keck erklärten, woran die Schule aus ihrer Schüler:innen-Sicht krankt und was im Unterricht zu ändern sei – um ihnen dann das Versprechen zu entlocken, dass sie sich für ihre Anliegen einsetzen werden.
Hartmann war seiner Zeit nicht voraus. Vielmehr hatte er in den USA beobachtet, wie der Filme in Schule und Unterricht Einzug hielten. Im Umstand, dass an schweizerischen Schulen noch komplett ohne Filme unterrichtet wurde, fand er seine Geschäftsidee: Sowohl ausländische Unterrichtsfilme einzukaufen, sie an den schweizerischen Kontext anzupassen als auch eigene Filme zu schweizerischen Themen zu produzieren, um sie dann – gegen Bezahlung – in den Schulen vorführen zu können. Mit dem Schweizer Schul- und Volkskino lancierte Hartmann also keine bahnbrechende Neuigkeit, kein von ihm von Grund auf entwickeltes Angebot, sondern versuchte den Vorsprung, den er in us-amerikanischen Schulen erkannt hatte, in der Schweiz möglichst gut zu nutzen.
« Wir glaubten an den guten Film und hofften, ihn überall einführen und damit in positiver Weise den Kinoschund bekämpfen zu können. »
M.R. Hartmann
Zweifellos verfolgte und verwaltete Hartmann seine Geschäftsidee hartnäckig. Er stiess sowohl auf technische Schwierigkeiten, pädagogische Zweifel, behördliche Ablehnung und politische Zurückhaltung. In allen diesen Gebieten konnte er durchgehend eine Schar von Mitstreitern gewinnen, die das Schweizer Schul- und Volkskino unterstützen. Seine Faszination für den Film und Filmtechnik bis hin zur technischen Verbesserung der Projektoren liess ihn stetig nach Neuerungen suchen, mit denen sich das Fehlen von Vorführapparaten in Schulen wettmachen liess. Skepsis bei den damaligen Lehrpersonen gegenüber dem Einsatz von Filmen im Unterricht begegnete er mit der scharfen Unterscheidung zwischen dem «guten und anständigen Film», den das Schweizer Schul- und Volkskino den Schulen anbiete, und dem «schlechten Tingeltangelkitsch» und «Schundfilm», den andere vertreiben und den es zu bekämpfen gelte. Und gegen die behördliche Ablehnung und politische Zurückhaltung knüpfte er ein Kontaktnetz, das schliesslich bis in die höchsten Ebenen der kantonalen und nationalen Bildungsbehörden und -politik reichte: Aus ihm konnte er immer wieder Personen für die zahlreichen Komitees und Gremien mobilisieren, mit deren Unterstützung er die Klippen, die mitunter die Existenz seines Schweizer Schul- und Volkskinos bedrohten, zu umschiffen vermochte.
« Die finanziellen Opfer, die wir jahrelang für diesen Zweck gebracht hatten, waren nicht mehr gerechtfertigt, und zwar hauptsächlich deshalb, weil an zahlreichen Orten Pfarrämter, Anstalten, Vereine usw. Vorführungsapparate angeschafft hatten. »
M.R. Hartmann
Es ist schwierig einzuschätzen, ob Hartmann mit dem Schweizer Schul- und Volkskino schlussendlich erfolgreich war. Die Genossenschaft wurde erst in den 1970er Jahren aufgelöst, nach also immerhin über 50 Jahren Existenz. Und zwar nicht wegen dem, was sie anstrebte und den Aktivitäten, die dafür unternommen wurden, sondern wegen dem, was sie zu wenig beachtete: Der Vorsprung, der an ihrem Anfang stand, hatte sich aufgelöst. Projektoren und Tonanlagen wurden kleiner und handlicher, benutzerfreundlicher zu bedienen und ihre Preise sanken so weit, dass sie von einzelnen Schulen angeschafft werden konnten. Im Zusammenhang mit der Auflösung spricht Hartmann selber in seiner Autobiografie von «aufgeben», was für ihn persönlich ein eher bitteres Ende vermuten lässt.
Doch eigentlich schliesst die Geschichte des Schweizer Schul- und Volkskino mit einem guten Ende. Die Schulen und die an ihnen tätigen Lehrpersonen haben sich das Medium Film zu eigen gemacht, und zwar so weit, dass sie keine externen Unterstützer mehr benötigten. Sie haben an den, von Hartmann als regelrechtes Ereignis inszenierten Vorführungen den Film für sich als Medium entdeckt, dieses an ihre eignen Ziele und Begebenheiten vor Ort angepasst und sich über die verschlungenen Wege der Bildungsbehörden und -politik die Mittel beschaffen können, die sie dafür benötigten.
« Wir sind die agents novateurs im digitalen Bildungsraum. »
Educa
Die heutige «Educa – Fachagentur für den digitalen Bildungsraum» knüpft an diese beiden Enden der Geschichte von Hartmanns Schweizer Schul- und Volkskino an. Sie verbindet technologische Entwicklung und der sich verändernde EdTech-Markt mit den staatlich gefassten Zielen der Qualitätsentwicklung im Bildungsraum Schweiz. Und zwar nicht um einen Vorsprung zu verwalten, sondern um – wie Ida und Adi es im Bühnenstück sagen – gute Ideen im Interesse von letztendlich Schülerinnen und Schülern aufzunehmen, zu entwickeln und gemeinsam mit allen Beteiligten umzusetzen.
Epilog
Das dauernd prekären Überleben des Schweizer Schul- und Volkskinos liess bei Hartmann den Entschluss reifen, persönlich einen Beitrag zur Förderung des guten Films zu leisten. Zu seinem 60. Geburtstag gründete er 1958 die Milton Ray Hartmann-Stiftung. Auch sie hat sich entlang des technologischen und gesellschaftlichen Wandels laufend den veränderten Bedingungen angepasst. Mit dem Ziel, Digitalität in der Bildung auszugestalten, unterstützt die innovative Digitalisierungsprojekte in Schule und Unterricht gemäss periodisch wechselnden Förderkriterien. Fördergesuche können direkt auf der Website eingegeben werden.