Unbestreitbar und sichtbar hat die Schweizer Schulstuben während des Lockdowns ein Digitalisierungsschub erfasst. Auch wenn man Fernunterricht mittels Briefpost hätte machen können, war der Einsatz digitaler Hilfsmittel eine grosse Erleichterung bei der Weiterführung des Schulunterrichts unter erschwerten Bedingungen. Nun, da die Schulen wieder geöffnet haben und der Präsenzunterricht, wenn auch noch mit Einschränkungen, wieder stattfindet, stellt sich aber die Frage, ob der ab und zu unfreiwillige Effort, den Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler beim Einsatz digitaler Techniken leisten mussten, auch bei der Rückkehr in den Schulalltag mit der Möglichkeit physischer Interkationen noch Bestand haben wird.
3'000 Schweizerinnen und Schweizer befragt
Um dies zu ergründen, werden wir noch einige Monate warten müssen. In der Zwischenzeit hat uns jedoch interessiert, wie sich die Schweizer Bevölkerung zu dieser Frage stellt, d.h. welche Erwartungen bezüglich des digitalen Wandels sie an die Schweizer Schulen haben. Zu diesem Zweck hat das Befragungsinstitut LINK im Auftrag der Universität Bern (Leading House «Economics of Education») im Juni 2020 3'000 Schweizerinnen und Schweizer unter anderem zu diesen Erwartungen befragt. Konkret wurde den Befragten folgende Frage vorgelegt: «Wie nachhaltig, glauben Sie, wird sich der im Bildungswesen durch den Fernunterricht erzwungene Schritt zur Digitalisierung in der Bildung auswirken, nachdem die Schulen wieder zum Präsenzunterricht gewechselt haben?». Befragt wurden nicht nur Personen mit Kindern im schulpflichtigen Alter, sondern das ganze Spektrum der erwachsenen Bevölkerung; dies aus zwei Gründen. Erstens haben auch erwachsene Personen ohne Kinder im schulpflichtigen Alter einen Einblick in die Folgen des Lockdowns gewinnen können, sei es über Enkelkinder, Patenkinder oder die Erzählungen von Freunden, Bekannten und Verwandten mit Kindern. Zweitens, und viel wichtiger, ist aber der Umstand, dass bei kommenden politischen Entscheiden, beispielsweise, wenn ein Budget über die Anschaffung von Tablets für alle Schülerinnen und Schüler in einem kommunalen oder kantonalen Parlament ansteht, alle Bürgerinnen und Bürger sich aufgrund der auf der subjektiven Erfahrung gewonnen Meinung direkt oder indirekt (über die politischen Parteien) zu diesen Fragen äussern werden. Um es gleich vorwegzunehmen, in ihren Einschätzungen unterscheiden sich interessanterweise Personen mit schulpflichtigen Kindern nicht von solchen ohne!
Die Hälfte erwartet nachhaltige Veränderungen
Auf einer Skala von 1–8 von «überhaupt keinen nachhaltigen Einfluss» bis «nachhaltig mehr digitale Lehr- und Lernformen» gaben im Durchschnitt leicht mehr als 50% der Befragten eine 6, 7 oder 8 als Antwort, d.h. rechnen mit einem leichten bis starken nachhaltigen Einfluss. Nur gerade 13% der Befragten antworteten mit einer 1–3, d.h. von überhaupt keinem bis nur geringfügigem Wandel, während ein Drittel der Befragten die mittleren Antwortkategorien wählte und sich somit entweder nicht entscheiden konnte, in welche Richtung das Pendel ausschlagen wird oder nur mit einem moderaten Wandel rechnet (siehe Abbildung). Interessant werden solche Befragungen dann, wenn man sich die unterschiedlichen Antworten nach bestimmten sozio-demografischen und auch geografischen Kriterien anschaut. Dabei stechen vor allem die folgenden vier Unterschiede ins Auge, die sich auch bei gleichzeitiger Berücksichtigung aller Charakteristiken als statistisch signifikante Unterschiede erweisen.
Die Westschweizer skeptisch, das Tessin euphorisch
Erstens zeigen sich bei der Einschätzung der Nachhaltigkeit des digitalen Wandels grosse Unterschiede nach Kantonen und vor allem auch nach Sprachregionen, wobei es für einmal die sogenannte «lateinische Schweiz» nicht gibt. Während die Deutschschweiz quasi das nationale Mittel darstellt, erwarten rund 60% der Tessinerinnen und Tessiner eher bis sehr nachhaltige Veränderungen, verglichen mit lediglich 41% der Westschweizerinnen und Westschweizer. Zweitens zeigt sich ein leichter und interessanter Geschlechterunterschied, bei dem für einmal die Frauen eher einen nachhaltigen Wandel erwarten als die Männer; vielleicht, weil sie während des Lockdowns näher am Geschehen der Schulen waren. Drittens gibt es einen Alterseffekt, wobei eher nicht überraschend die jüngeren Befragten stärker von einem nachhaltigen Wandel ausgehen als ältere Befragte. Viertens und nachdenklich stimmend, gibt es einen deutlichen Unterschied in den Einschätzungen, wenn man den Bildungshintergrund der befragten Personen anschaut. Je tiefer der Bildungsstand, desto weniger gehen die Befragten von einem nachhaltigen Wandel aus. Warum dem so ist, darüber lässt sich im Moment nur spekulieren. Bekannt ist aus solchen Befragungen, dass Menschen die Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Dinge und Ereignisse, die sie nicht lieben oder die sie fürchten, eintreten, tiefer schätzen, in der Hoffnung, dass sich ihre Erwartung dann auch erfüllt. Es kann also sein, dass Befragte mit tiefem Bildungsstand sich einen solchen Wandel gar nicht wünschen und Befragte mit hohem Bildungsstand umgekehrt sich einen solchen erhoffen. Eine andere Erklärung könnte aber auch sein, dass die Erfahrungen des digitalen Wandels während des Lockdowns anders waren, je nach Wohnort und Betroffenheit und man deshalb zu einer anderen Einstellung bezüglich des zukünftigen Wandels gekommen ist.
Die Erwartungshaltung ist insgesamt gross
Was auch immer die Erklärungen für diese unterschiedlichen Einschätzungen sind, so geht aus dieser repräsentativen Befragung hervor, dass ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung einen nachhaltigen Schub in der Digitalisierung der obligatorischen Schule erwartet. Ob die Wirkungen eines digitalen Wandels in der Bildung dem entsprechen, was sich die Bevölkerung davon verspricht, das steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Sicher ist nur, dass eine Schule, die in Sachen Digitalisierung zum «courant normal» vor dem Lockdown zurückkehren würde, den Erwartungen der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger nicht gerecht würde.